Drunter und drüber

Dann kam der Moment und der Moment brachte M. Ich bin nicht mehr allein unterwegs und das ist erfrischend. Die Welt direkt zu kommentieren, einen zweiten Blick zur Verfügung zu haben. Aber es eröffnet nicht nur Möglichkeiten, es frisst auch Zeit, frisst die Zeit, in der ich mich langweile und nach Gesellschaft sehne. Frisst die Zeit in der ich meinen Gedanken nachhänge und Zeit in der ich mich besinne und die Vergangenheit in eine Form bringe. Eine nachhaltige Form des So-ist-es-passiert. Geschichte schreiben.

Eben war ich noch in der österreichischen Botschaft und erlebe die Heimat als bürokratischen Verwaltungsapparat, wenn ich mich für den Eintritt erklären muss und dann ein dickes Kuvert überreicht bekomme. Aber mit Erleichterung stelle ich fest, dass ich nicht der einzige, dass ich nicht der letzte bin, der hier seine Wahlkarte in Empfang nimmt. Und dann viel zu viele Namen und Listen und ich mach mein Kreuz und steck meinen Wahlzettel ins Kuvert, den Rest in meine Tasche. Und jetzt liegt selber der Effekt dieser Handlung schon in der Vergangenheit. Ein paar Tage später lese ich übrigens die Listen und wunder mich, warum Parteien mehr Leute auf ihre Listen setzen als es Plätze im Parlament gibt. Ja, ja, da sind wohl irgendwelche Vorzugsstimmenwahlkämpfe versteckt, aber so die Listen durchzublättern und auch nur 183 Leute auf einer Liste zu sehen wirkt ein bisschen nach Arroganz.

Auf einen Sprung zurück in Tokio

Insgesamt gibt s für mich sonst nicht viel zu tun in der Botschaft. Ich überfliege schnell einen Prospekt über österreichische Kulturveranstaltungen August bis September und sehe, dass ich eine Klimtausstellung in Osaka verpasst habe. Aber ich bin insgesamt schnell wieder draußen und wander noch ein bisschen verloren durch die Gassen des – wie ich annehmen muss – Botschaftsviertels. Warum sonst würde ich hier so viele blonde Frauen auf Fahrrädern-mit-Kindersitz-hinten-drauf sehen. Und obwohl ich Tokio deutlich weniger fordernd finde, als vor zwei Wochen, lauf ich dann vor lauter Tokio doch noch über eine rote Ampel. Neben mir bremst ein größeres Auto, aber so sanft, dass ich es überhaupt erst bemerke, als es bereits stehengeblieben ist. Natürlich ein bisschen ein Schreck auf meiner Seite. Und sofort denke ich, dass das jetzt wirklich nicht… also natürlich war das mein Fehler. Ich hab nicht damit gerechnet, dass zwei aufeinanderfolgende Ampeln nicht gleichgeschaltet sind, selbst wenn die Verkehrsinsel zwischen den zwei zu überquerenden Straßen nur drei, vier Meter breit ist. Auf besagter Verkehrsinsel steht eine uniformierte Person und sofort bin ich als braver österreichischer Staatsbürger für eine unterwürfige Geste zu haben. Aber nichts da: die Person in Uniform schlägt selbst die Augen zu Boden, reagiert das offizielle Tokio also eher mit Enttäuschung als mit Strafe auf meine Gesetzesschramme?

Auf dem Weg zurück zum Bahnhof such ich mir noch ein schickes Kaffeehaus, in dem ich nicht nur eine Tasse indonesischen Kaffee trinke, sondern mithilfe der Möglicherweise-e-die-Besitzerin meine Postkarte an das hiroshimanesische Restaurant adressiere. Und dann heißt s mich sputen, damit M nicht allzu verloren auf dem Bahnhof herumsteht. Wir haben noch einen Zug zu erwischen und er hat elf Stunden Flug hinter sich, ich bin mir sicher, der möchte sich setzen. Ich hab noch ein Internet auf meinem Telefon, aber die freien Wifis, die in der Stadt zu finden sind, sind nicht immer einfach und ich bin nicht sicher, ob meine Beschreibungen des idealen Treffpunkts so verstanden werden, wie ich mir das erträume.

Aber alles kein Problem, da steht er schon, unerwartet frisch und munter, den Railpass in der Tasche und ein dementsprechendes Lachen im Gesicht. Es geht fast alles ein bisschen zu glatt. Ein fröhliches Hallo und auch nach acht Monaten gleich in die selbe Vertrautheit zurück, wie in die Lederhandschuhe vom vorigen Jahr. Im Shinkansen kriegen wir bloß Sitze hinter- beziehungsweise voreinander, aber mit einem Blick durch die Sitzreihen zurück stelle ich fest, dass das auch nicht so schlecht ist, weil dann kann sich M noch ein bisschen ausruhen. Ist ja doch eine lange Reise. Von Wien nach Tokio, von Tokio nach Hakodate.

Weil wir sind jetzt noch stundenlang unterwegs, inklusive einer unauffälligen Querung der Meerenge zwischen Honshu und Hokkaido. Weil es draußen bereits dunkel geworden ist, merken wir kaum, dass wir in einen Tunnel hinein und aus einem Tunnel wieder hinaus sind. Glücklicherweise bekommt M von seinem Sitznachbarn über gemeinsames Gestikverständnis erklärt, wie ein Tunnel funktioniert, erfahre ich später. Und eine getrocknete Jakobsmuschel, die zugegebenermaßen sehr wie ein Karamellbonbon ausschaut, und deshalb umso mehr für den eben noch aus Europa geflogenen Gaumen ein bisschen eine Überraschung darstellt.

In Hakodate finden wir zu unserem Schachtelhotel, ein kleiner Spaziergang durch unsere erste Stadt Hokkaidos. Es ist schon einmal deutlich kühler als in Tokio, mich friert s fast ein bisschen auf den von meiner Hose nur halbbedeckten Wadeln. Im Schachtelhotel werden wir enthusiastisch begrüßt und es wird uns ein Foto mit Fahne in der Hand abgenommen. Ich mein, einfach weil sie tatsächlich eine österreichische Fahne dort stehen hatten, das hat mich einen Moment lang beeindruckt. Weil zuerst hat man uns die australische Fahne angeboten und wenn ich nicht gedacht hätte, dass sie jetzt sicher keine österreichische da stehen hätten, hätte ich die ja nicht abgelehnt. Im Zweifelsfall nämlich sowieso lieber mit der australischen, nicht weil ich lieber mit einem australischen Pass herumlaufen würde, einfach weil die Abstraktion eine größere ist, wenn ich mich weniger mit der Fahne identifizier (ob ich will oder nicht), die ich in der Hand halte. Und dabei sind wir bei weitem nicht die einzigen euro-amerikanischen Gäste. Der Enthusiasmus scheint wirklich Standard zu sein.

Auf den ersten Blick gleich einmal, wofür sich Hakodate rühmt. Mein Hiragana reicht übrigens grad dafür aus, dass das, was da unterhalb von „Hakodate“ geschrieben steht, sicherlich nicht „Hakodate“ heißt!

Ein erstes japanisches Abendessen für den Freund von daheim in einem guten aber von sehr distanzierten Unternehmern geleiteten Rahmenlokal. Daheim gibt s noch einen Becher Gerstentee, bevor wir in unsere mit Rollo verschließbaren Bettkabinen kriechen. Wie Aschenbecher, sagt er und meint den Tee. Aber auch in unseren Schlafverschlägen ist es spätestens am Morgen heiß und stickig.

Wir verlassen das Hotel ohne die hunderttausend Freizeitangebote in Anspruch genommen zu haben, die uns zur Verfügung gestellt werden. Ich hab kurz die Kalligraphie ausprobiert und schnell festgestellt, dass mein Asienaufenthalt meinen plumpen Pinselstrich nicht beeinflusst hat. Am Klavier spiele ich wohl nicht einmal eine Melodie sondern tappe nur ein kurzes ping-ping um eine Idee vom Klang zu bekommen. Sofort springt jemand hinter der Rezeption auf und man deutet mir zur Motivation, ich solle doch, ich würde doch bitte. Aber wir haben schon die Rucksäcke umgeschnallt und machen uns auf den Weg zum morgendlichen Fischmarkt.

Den morgendlichen Fischmarkt haben wir um zehn natürlich längst verpasst, aber es gibt noch den, naja, den normalen Fischmarkt, I guess, auf dem die größte Attraktion ein Aquarium ist, aus dem sich KundInnen selbst ihren Tintenfisch angeln können. Das kommt mir dann doch ein bisschen gar grob vor, irgendwo hat ein Tintenfisch ja doch ein zur Empathie einladendes Goscherl und die zwei großen Augen und die eindeutige Panikreaktion, als er am Haken aus dem Wasser gezogen wird und selbst Wasser auf die AngreiferInnen spritzt. Letztlich hindert s mich aber doch nicht daran, mir in der nächsten Halle ob der begrenzten Auswahl einen gegrillten Tintenfisch zum Kaffee zum Frühstück zu bestellen. Aber der Vegetarier in mir werkt schon in derartigen Situationen und er ist in den letzten Wochen lauter geworden, stellt Ansprüche während ich „einfach nicht dazukomme“ nachzusehen, ob es der Gelbflossenthunfisch oder der Blauflossenthunfisch ist, der derart überfischt ist. Es ist einfach nicht richtig.

Das ist schon ein ziemlicher Waschl, der da im Becken auf eine KöchIn gewartet hat. Oktopus ist ja auch ganz oben auf der Liste von Tieren, die mir beim Verspeisen ein schlechtes Gewissen machen.

Nächster Halt: Asahikawa. Lustigerweise kommt da gar nicht das Bier her (Asahi), zumindest nicht, dass wir das herausgefunden hätten. Es gibt nämlich zwei, sagen wir, drei. Es gibt drei große Bier in Japan. Kirin. Sapporo. Asahi. In Japan und außerhalb. In Australien zum Beispiel gibt s kaum ein japanisches Lokal, das nicht Asahi ausschenkt. Es ist auch sonst ein beliebtes Bier, so weit ich mich erinner. Und vor einem halben Jahr hab ich noch gedacht, dass es sich bei Asahi um eine Kette japanischer Restaurants handelt, weil ich das so miteinander verbunden hatte ohne mich wirklich für s Bier zu interessieren. Und jetzt ist das ja auch nicht im Fokus, wenngleich man sagen muss, dass der Besuch von zuhause schon auch die eine oder andere Gewohnheit von daheim mitgebracht und in meinen Alltag zurückimportiert hat. Also zum Beispiel, dass ein Bier nicht nur eine Begleitung für ein Abendessen ist, sondern so einem Glas in den Zustand innerer Leere zu verhelfen auch ein abendliches Zusammensitzen begleitet. Das kommt wie von selbst und ich bin ein bisschen unzufrieden damit, wie schnell das wieder den Rang einer Selbstverständlichkeit angenommen hat. Das ist doppelt schade, weil einerseits torpedier ich mir damit ein bisschen das Zusammensitzen, wenn ich mir nicht gegen die schlechte Laune zu helfen weiß und auf der anderen Seite ist es halt auch einfach ein bisschen bedauerlich, dass das eine gemeinsame Freizeitbeschäftigung ist, zu der mir in der Situation auch keine Alternative einfällt. Ich mein, wir schießen uns ja nicht weg, aber das eine Bier, das vor ein paar Wochen noch eine erwähnenswerte Ergänzung meiner Abendessen in Japan war, das sind halt jetzt zwei.

Asahikawa. Die Architektur im Norden ist ein bisschen blockiger, ein bisschen pragmatischer, wetterfester. Vielleicht ein bisschen realsozialistischer im Stil. Den Punkt, von dem man von Japan aus nach Russland sehen kann, für den hat sich der Umweg nicht ausgezahlt.

Asahikawa ist jetzt aber wirklich schon weit im Norden und es ist kühl genug, um im Rucksack nach den Jeans zu kramen. Die Leerstelle ist schnell mit den Flipflops gefüllt, auch die brauch ich heroben nicht. Als wir in einer kleinen Gasse unsere Unterkunft gefunden haben, sagt die Besitzerin, dass sie keine Duschen hat und ich denk mir, das erklärt, warum das so billig war und sag, das sei kein Problem, es sind ja nur zwei Nächte und wenn sie sagt, nebenan gibt s ein öffentliches Bad, dann passt uns das. Ob ich mich einmal nach M hätte umdrehen sollen, bevor ich den neuen Umständen zugesagt hab – könnte sein. M ist in mehrfacher Hinsicht nicht ganz glücklich mit dem etwas urigen Ambiente. Und es stimmt schon: die Stufen sind so steil, dass sie durchaus an die Gefährlichkeit grenzen, das Klo ist drei Stockwerke entfernt und der Eingangsbereich ist eine Mischung aus Bar und Wohnzimmer, tief hinten in einer Einfahrt und bar jeglichen Sonnenlichts. Außerdem ist das Zimmer einfach nicht hoch genug, dass M aufrecht stehen kann. Und wo die Besitzerin freundlich und bemüht ist, kann man das möglicherweise auch als ein bisschen zu wenig distanziert wahrnehmen. Das ist dann auch irgendwo die Schwierigkeit zwischen meinem Driften, meinem Willen zur Sparsamkeit und dem Mann, der doch gekommen ist, um Urlaub zu machen und nicht unbedingt bereit ist, mit Komforteinschränkungen für seine Übernachtungen zu zahlen.

Aber schön, mit dieses Bedürfnisschräge werden wir die nächsten zwei Wochen zu tun haben und jetzt sind s ja nur zwei Nächte. Und jetzt sitzen wir erst einmal über einem mongolischen Grill, was einfach als Genre Dschingis Khan heißt. So wie ein Essen Fondue heißen kann oder Brettljause. Ich glaub nicht, dass das ok ist, das so zu nennen, aber es schmeckt auf jeden Fall. Und es ist das erste Mal, dass ich am Boden sitzend mein Essen einnehme. Vor ein paar Jahren bin ich mit dem Funfact herumgelaufen, dass die JapanerInnen heute (und ein paar Jahren) im Schnitt um so-und-so-viele Zentimeter größer sind als noch vierzig Jahre zuvor, weil sie die traditionelle Art des Am-Boden-Kniens-Slash-Sitzens zugunsten von Stühlen aufgegeben hätten. Natürlich ist der Fun in dem Fact eher, dass es eine Behauptung ohne Quellenangabe ist und vielleicht letztlich… es erscheint jetzt einfach nicht besonders logisch.

Am Plan steht eine Besteigung des Asahidake im Daisetsuan Nationalpark. „Spielplatz der GöttInnen“ heißt es in den Broschüren und in der Gondel, die wir letzten Endes doch den Berg rauf nehmen. Weil unten ist es gatschig und der Weg scheint, seit sie die Gondel gebaut haben, nicht mehr tip-top in Stand gehalten zu werden. Aber vielleicht war er s nie und mein impliziter Vorwurf der kapitalistischen Logik ist ungerechtfertigt. Beim Erkundschaften möglicher Besteigungsrouten haben wir immerhin zwei Herren mit Helmen im hohen Gras erspäht, die schienen den Weg zu erneuern, aber das waren nur die ersten hundert Meter und das ist zu wenig für einen Zweitausender. Außerdem hab ich im hohen Gras eine Schlange gesehen und der M hat sowieso nur seine Laufschuhe mitgebracht, also verzichten wir auf das Abenteuer durch den Busch und, ja, Gondel.

Schöne Aussicht trotz allem kalt und patschig. Und wenn das auch nicht einmal ein Wort ist, erinnert es mich an die Überlegung, ob nicht diese Wörter, die im Deutschen auf -tschig enden, nicht alle ein bisschen onomatopoetisch daherkommen. In Indonesien hab ich mal drüber nachgedacht: glitschig, matschig, gatschig, flutschig…

Leider ist die Situation oben auch nicht ideal. Oder: kommt wahrscheinlich drauf an, was man sich wünscht. Es liegen nämlich zwanzig Zentimeter Schnee und dass es noch ein bisschen zu warm für den Schnee ist, ist dann auch keine Erleichterung, weil so hat M bald die Schneeschmelze bis zu den Knöcheln, während wir mit den vielen anderen BesucherInnen gemeinsam über die engen Wege rutschen. Es ist schon schön, das lässt sich auf jeden Fall sagen und auch M vergisst die nassen Füße, als die Luft schwefeliger wird und die Begeisterung für die aus dem Berg stoßenden Dampfschwaden einsetzt. Ein Vulkan ist einfach was lässiges. Und wenn der heiße Dampf aus einer Schneedecke hervorquillt, dann ist das noch eine Stufe lässiger. Leider sind die Kontraste nicht so gut, weiß auf weiß und bewölkter Himmel. Und auch wenn s nicht Indonesien ist und deshalb schon dreißig Meter vor den Austrittslöchern eine Absperrung aufgebaut und fleißig bewarnschildert wurde, es ist halt trotzdem super. Irgendwer hat auf dem Rastplatz ein Schneeschwein geformt, das war auch super. Sonst gilt als die lokale Hauptattraktion die Ausstellung der Jahreszeiten und jetzt eben der Herbst-Winter Übergang. Daisetsu Nationalpark sei üblicherweise jene Gegend, wo sich die Blätter zuerst verfärben, wo der erste Schnee fällt und so für Japan jene Jahreszeiten einläutet. Immerhin der höchste Berg Hokkaidos. Es wirkt jedoch fast ein bisschen frühlingshaft, aber die Blumen, die da scheinbar als die ersten durch den Schnee stoßen, sind eher die letzten, die von der Kälte gerafft werden, aber das sieht ja nur, wenn man s weiß. Nur hie und da zeigt sich der Herbst auf dem Laub, das satte Grün ist vielerorts nur vom Schnee verdeckt.

Ich bin jetzt über meine Fotos fast ein bisschen erstaunt. Also einerseits, wie toll ich die Panoramafunktion zu bedienen weiß, aber auch einfach, wie schön das dort war.

Zurück im Tal gibt s einen Onsen, der die schneenassen Füße wärmt (wer s braucht) und uns außerdem die fehlende Dusche in der Unterkunft kompensiert. Wir kaufen unabsichtlich zwei Handtücher, weil Ausborgen spielt s nicht für uns, die wir nicht Gäste im Hotel sind. Aber die damit verbundenen Kosten sind so gering, dass ich nicht auf die Idee gekommen wäre, dass wir die tatsächlich erwerben. Gut vielleicht, dass wir uns mit kleinen Handtüchern zufrieden gegeben und nicht das volle Set erstanden haben.

Aber alles in allem ist alles in Ordnung. Der Bus schupft uns heim und wir machen uns ein gemütliches Abendessen in einem Ramengeschäft. Wir sind vielleicht ein bisschen irritiert über den offenbar europäischen Hintergrund der einen Kellnerin, es ist einfach sehr unüblich, die nicht-asiatischen GastarbeiterInnen in Japan. In der einen oder anderen Jugendherberge sitzt mal eine EuropäerIn an der Rezeption, aber das ist es wirklich. Und lustig, wie das von außen dann immer gleich so so ausschaut, als spräche sie ein makelloses Japanisch. Die Sprache ist so fremd, dass ich ja wirklich nichts verstehe (ab und zu mal eine der ersten drei Ziffern) aber schon gar nicht beurteilen kann, wie eloquent oder auch nur wie flüssig sich jemand auszudrücken weiß. Und selbst die Gestik und paraverbale Gesprächsanteile unterscheiden sich noch einmal merklich, sodass jemand mit ein bisschen Japanischkenntnissen dann oft schon extremst bewandt.

Nach Asahikawa sind wir nach Sapporo. Zunächst haben wir das ja anders herum geplant gehabt, dass wir zuerst einen Sprung nach Sapporo machen und von dort weiter nach Asahikawa. Aber schau an, es hat kurzfristig echt null Unterkunft für uns gegeben. Ok, nicht null, Sapporo ist ja doch recht groß. Aber in der Nähe des Zentrums und in einer recht engen Preiskategorie haben wir für den nächsten Tag nichts gefunden. Jetzt kann man sagen: Zufall. Oder man sagt: Rugbyworldcup. Hab ich mich mit meinen Befürchtungen doch ein bisschen bestätigt gefühlt. Wahrscheinlich war s so herum dann eh besser, weil wir ja auch einen Taifun mitgebracht haben und das schlechte Wetter in der Stadt sicherlich leichter zu umgehen war als draußen am Spielplatz der GöttInnen. Viel leichter nämlich, hat sich dann herausgestellt, als wir mit bereits nassen Füßen nach einer halben Stunde Stadtquerung herausgefunden haben, dass zumindest das Stadtzentrum mehr oder weniger untertunnelt ist und wir zumindest von unserem Kaffeehaus aus einfach unterirdisch herumgelaufen. Ich mein, viel gibt s nicht: Geschäfte und Lokale. Aber was braucht man schon viel mehr. Ich laufe meinen Spielkarten hinterher, die s nirgendwo gibt und für s Mittagessen sind wir dann sogar aus dem Untergrund heraufgekommen und haben uns die Füße auf dem Weg zum Fischmarkt benetzt. Essen gehen ist gemeinsam ja auch um ein vielfaches schwieriger, als allein. Ich mein, erstmal, dass die Hungerzyklen synchronisiert werden. Dass die Snacklust angepasst ist. Das ist alles nicht so einfach. Auf der anderen Seite erlaubt s halt auch ein bisschen was experimentelleres, wenn ich mein Gegenüber endlich auf Austern überredet hab, die ich mir allein nicht geben wollte. Jetzt sitzen wir auf jeden Fall über Sashimischüsseln, für die Aufregung hier verschiedenen Krebsen ans Bein zu nagen und Seesternrogen zu futtern, hab ich dann doch ganz schön auf s Wechselkurserinnern verzichtet. War dann eh auch fein, wobei ich sagen muss, dass mir nicht zuletzt in Erinnerung ist, dass ich dort den besten Reis gegessen hab.

Die Ruhe vor dem Sturm: Der Himmel über Sapporo am Vorabend des Taifun

Am Abend sitzen wir mit zwei Flascherl Sake in unserem vergleichsweise schicken Hotelzimmer. Sein Sake in den Eiswürfeln, mein Sake im Wasserkocher. Ich hab viel Zeit für ein Getränk, das sich warm und kalt trinken lässt ohne ekelhaft zu sein. Beim Aufräumen hat das Hotelpersonal mein unabsichtlich gekauftes Handtuch eingepackt und ich bin ok damit. Kurz überlege ich, dafür eines der hotellernen einzustecken. Aber erstens: nein. Und zweitens brauch ich ja kaum ein zweites Handtuch und sollte froh sein, dass mir das mit so wenig Eigeninitiative abhanden gekommen ist. Im Fernsehen gibt s Rugby und Go und eine Gesprächsrunde bei der sechs Leute um einen Tisch herumsitzen und Whisky trinken: Zwei Japanerinnen, drei Japaner und ein Ausländer, der bei uns daheim wohl nicht als solcher auffallen würde. Dann gibt s noch eine Sendung mit zwei Chinesinnen Anfang zwanzig, die durch die von einer Kamera verfolgt durch die Stadt spazieren und verschiedene Touristenattraktionen besuchen. Ehrlich gesagt kommt mir aber die Zeichentrickserie auf dem nächsten Kanal, in der die ProtagonistInnen in erster Linie Frauen mit way überzeichneten Proportionen sind, weniger sexistisch vor. Letztlich sitzen wir dann vor der zweiten Hälfte von Back to the Future Part III, die ganzen Ungenauigkeiten kritisierend, die man als Teenager gerne mal übersehen hat.

Am Vortag, unter passablen Wetterbedingungen, sind wir sogar ein bisschen an Sapporos Oberfläche herumgelaufen. Wir haben jetzt aber auch nicht irre viel für uns in der Stadt entdeckt. Ein bisschen durch die Straßen spaziert, den Fluss entlang und durch einen Park wieder zurück. Wobei wir, nicht uninteressant, auf eine Hochzeitsgesellschaft gestoßen sind. Also, zuerst war da so Krach im Park und auf dem Plan hat s ausgeschaut, als ob dort irgendein Musikhaus wäre. Interessant, hab ich gedacht, da machen sie vielleicht ein Gegenprogramm zum Rugger. Aber dann sind wir auf einer Parkbank gesessen und haben aus sicherer Entfernung (sowie des einsetzenden Abends) da wirklich einer Zeremonie zugeschaut. Dann ist die Gesellschaft plötzlich aufgebrochen und an uns vorbei und ich wollte ja die Gelegenheit gerne nutzen um „zufällig in die gleiche Richtung“ zu gehen und ein bisschen den Leuten zuzuschauen, aber da hat mir M nicht mitgespielt. Da tut man sich vielleicht allein leichter, ein bisschen in den Kontakt zu kommen oder zumindest in der Umgebung eines derartigen Ereignisses seine Kreise zu ziehen. Und ich versteh s eh, dass das schnell einmal ein bisschen herausfordernd wirken kann und rückblickend ist es schwer zu sagen, wem gegenüber ich mich hier provokanter erlebt hab. Wir sind dann zu einem unterirdischen Schnitzelwirten abgebogen.

In den kilometerlangen Gängen unterhalb Sapporos finden wir Bilder von Waldtieren und ihren japanischen Namen: Eci peci pec / Ti si mali zec / A ja mala vjeverica / Eci peci pec.

Ich hab schon ein anderes Gefühl gehabt in den Städten da oben im Norden. Ein bisschen wilder ist es mir erschienen, weniger aufgeräumt, weniger streng. Vielleicht insgesamt etwas weniger von dieser japanischen Kultur, wie ich sie archetypisch zwischen Osaka und Tokio erlebt habe. Japan halt auch nur ein Nationalstaat, in dem von einem kulturellen Zentrum heraus die Peripherie kolonisiert wurde. Sowohl in Hokkaido als auch auf den Inseln im Süden flockt der kulturelle Einfluss halt auch ein bisschen aus: An beiden „Enden“ gibt s eigenständige ethnische Gruppen, die bis heute überlebt haben, die Ainu auf Hokkaido und die Ryukyuan auf den südlichen Inseln um Okinawa. Von den Ainu sind nur wenige übrig, die nicht bereits in die japanische Leitkultur assimiliert wurden. Aber man scheint noch Feste zu feiern und in den U-Bahnstationen gibt es Schmuck mit Ainu Designs zu kaufen.

Abends schauen wir uns ein paar Minuten Rugby in der Fanzone an. Das hat uns beide ein bisschen Überwindung gekostet, aber ich hab letztlich darauf bestanden, wenn wir schon hier sind, wo sich hunderttausende die Finger danach abschlecken. Es war dann besagten Hunderttausenden zum Trotz wenig los in der Fanzone. Und auch im Stadion, hat man uns einmal gesagt. Ich wollte ja tatsächlich einmal Karten kaufen, aber wir hätten die wohl auch einfach vor dem Stadion noch geschenkt bekommen. Man sieht s dann auch auf den großen Schirmen in der Fanzone, dass die Stadien halbleer sind. Aber wir erwischen s ganz gut, mit zwanzig Minuten die Togo noch gegen England durchhalten muss. Das ist gerade genug Zeit für uns, dass wir die Regeln ein bisschen aus dem ableiten können, was vor unseren Augen passiert. Vor allem aber ist es ganz amüsant, ein bisschen zuzuschauen, mit was für einem Körpereinsatz sich diese Spieler ihrem Sport hingeben. Noch dazu in einer Situation wo das Match bereits dermaßen entschieden war. Das kann ich nicht leugnen, dass das eindrucksvoll ist. Aber natürlich ist eine halbe Stunde dann auch schon genug.

Dabei sein mal wieder alles gewesen

Wir sitzen schon wieder im Zug und sind auf dem Weg nach Tokio. M macht einen kleinen Umweg, den mir mein ablaufender Railpass nicht erlaubt, aber ein bisschen freue ich mich ja auch darauf, einen Tag allein im Kaffeehaus zu sitzen. In Tokio treffen wir dann noch D, die gerade aus Seoul auf einen Abstecher nach Tokio kommt. Klar, wenn man schon in der Gegend ist. Und wir laufen ein bisschen zu dritt durch die Stadt, erstes Ziel: Das Café in dem man nicht reden darf. Im Leon haben sie nämlich große Boxen aufgestellt, durch die den ganzen Tag von Schallplatten aus klassische Musik gespielt wird. Dazu gibt s mittelmäßigen Kaffee. Ein schönes Konzept, natürlich. Ich mein, man kann nicht direkt sagen, dass sie da unprätenziös an die Sache herangehen. Aber es ist angenehm in einem unscheinbaren Haus versteckt, es hat eine angenehme Heruntergekommenheit und die paar Leute, die drin sitzen, scheinen mehrheitlich zum Arbeiten hergekommen zu sein. Es wirkt also tatsächlich nicht nur wie das überdrehte Geisteskind einer Anerkennung heischenden Hipsterverbindung. Dass man weniger hierher kommt um, wie (ich glaube) Joseph Roth über die Architektur des Burgtheaters sagt, von den anderen ZuseherInnen gesehen zu werden, wird dadurch verstärkt, dass die Sitzplätze größtenteils in die Richtung der gigantischen Lautsprecher gerichtet sind und man schon deshalb still sitzt, weil jede Bewegung ein Knarzen und Rascheln zur Folge hat. Und der als Deejay doublierende Kellner sagt seine nächste Schallplatte so entschuldigend und zurückhaltend an, dass es das schon einen Besuch wert war. was so die richtige Stimmung ist, um durch die vielen Abteilungen des Geschäfts zu laufen, das nicht Super Hans heißt. Tokyu Hands, das ist es. Da gibt s alles und in jedem zweiten Stock muss sich der eine oder die andere von irgendwas losreißen. Oder auch nicht, auch einkaufen ist erlaubt, warum nicht. Nur in der Kleintierabteilung beschränkt man sich bitte auf fassungsloses Starren.

Letzte Blicke aus dem Zug auf Hokkaido bevor wir wieder unbemerkt in den Tunnel nach Honshu schleichen.

Das war s dann auch fast schon wieder. Weil ich bin in Tokio dann tatsächlich mehr im Kaffeehaus gesessen und in der unmittelbaren Nachbarschaft des Hostels abgehangen. Das war eine angenehme Abwechslung im Gegenzug zur Überforderung, mit der mir Tokio ja doch ab und zu zugesetzt hat. Und wiederum: es ist schon auch eine Leistung, wie es in der Stadt gelingt, dass neben einem vollkommen überdrehten, touristisch überanspruchtem Viertel, nicht nur tote, ausgelaugte Gegend liegt, sondern sympathische Nachbarschaften, mit ihren eigenen kleinen Straßenlokalen, in denen schon wieder kaum jemand Englisch spricht. Ich verbringe meinen interessantesten Nachmittag allerdings in einem Kaffee, in dem sie durchaus Englisch sprechen. Es ist mal wieder so etwas, wo man mir einen Platz an der Bar anbietet und ich sitze dann neben einer, die gerade ihre Schicht vorbei hatte und wir plaudern die nächsten vier Kaffee (in vielen der Cafés, die Single Origin Kaffees zubereiten, kriegt man die zweite Tasse desselben Kaffees für kaum die Hälfte der ersten…) über Kaffee, über das Café, über Japanisch, über Japan und die Welt.

Das hat mir die Barista aufgeschrieben. In einer meiner Zen-Recherchen (ich nenne das jetzt so nach Dirk Gentlys „Zen-Navigation“, wo er einem Auto folgt, das aussieht, als wüsste es, wo es hinfahre) bin ich ja darauf gestoßen, dass das Wort für Deutschland im japanischen lautmalerisch geschrieben wird, also aus zwei Kanjis besteht (ich _glaub_ die zwei links oben), die den Klang von „Deutsch“ (doitsu) imitieren, aber eine andere Bedeutung haben. Und dieses eine, das als einzelnes Kanji heute für „deutsch“ verwendet wird, bedeutet, wenn man es in seiner eigentlich Bedeutung liest, „allein“. Das hat mir sehr gut gefallen, die Messerfrau in Kyoto hat mir allerdings bedauert, dass sie nur in Katakana graviert.

Und das ist eigentlich die schönste Erinnerung, die ich aus Japan mitgenommen habe: wie schön ich oft mit JapanerInnen ins Gespräch gekommen bin, meistens über ein Essen oder halt einen Kaffee. Aber dass der Zugang irgendwie so schnell da war und das Interesse und die Lust am Plaudern und dass das alles nur sehr wenig eingeschränkt war von irgendwelchen Vorannahmen über wie man sich zu verhalten hätte. Wenn ich Japan insgesamt immer wieder als das erlebt habe, als eine Gesellschaft, die ihren BürgerInnen viele Vorgaben macht, wie man sich im Alltag zu verhalten habe, wo man jeden Tag tausenden uniformierten Salary-Men gegenübersteht, den Angestellten, die tagsüber durch die Straßen hetzen, abends in der U-Bahn an ihren Telefonen hängen oder des nachts betrunken aus einem Isakaya herausstolpern, hab ich gleichzeitig nirgendwo so schnell freundschaftliche Kontakte geknüpft, wie in Japan. Und jetzt war diese Barista, mit der ich in Tokio zuletzt noch geplaudert hab, dann sogar noch kritisch gegenüber Japan. Nämlich über das politische Desinteresse der JapanerInnen oder zumindest ihrer Generation oder halt auf jeden Fall über ihr eigenes, da ist sie schon unzufrieden gewesen, das sagen zu müssen. Und dass ihr Gefühl sei, dass sich Japan so blind gegenüber der Welt verhalte, dass insbesondere China einfach bewusst ignoriert werde. Stattdessen gebe es halt nur Europa und Amerika, dorthin blicke man. Aber den Stolz auf Japan, das war trotzdem da: Als ich gesagt habe, dass ich auf mein Heimatland einfach nicht stolz bin, da war sie schon ein bisschen erstaunt, quasi: wie das sein könne. Nun, hab ich gesagt, es sei vielleicht eher, dass auf Dinge, auf die ich in meinem Heimatland stolz wäre, mein offizielles Heimatland einfach nicht stolz ist. Aber das ist natürlich kryptisch und ich glaube, ich hab s einfach dabei belassen, dass mir da kaum etwas dazu einfalle, auf das ich stolz sein würde.

In Tokio aber eigentlich überall in der Ecke stellen sich Fischrestaurants gerne einige Aquarien vor die Tür, in denen die Fische lebendig gehalten werden. Oft sind sie schon ein bisschen am Abkratzen. Hier hingegen relativ fit: wahrscheinlich Turbo cornutus vor Sardinella zunasi.

Zweimal haben wir unseren Abflug nach Korea vor uns hergeschoben, es war uns dann immer ein bisschen zu kurzfristig, zwei Tage vorher zu buchen. Aber wir haben s dann geschafft, gleichzeitig zu verlängern und zu buchen, und uns selbst so ein Schnippchen geschlagen.

K (*yoto nach *anazawa)

Von Osaka nach Kyoto ist es wirklich kaum eine Zugfahrt. Das ist wirklich mehr eine Art S-Bahn als eine ordentliche Eisenbahn. Eine Frau bietet mir einen Stehplatz in der Ecke an und obwohl ich in der Mitte des Stehplatzbereichs mit meinem Rucksack zwischen den Knien hin- und herschwanke, sagt der Reflex zuerst einmal sagt, dass das schon passe, vielen Dank. Aber mithilfe schierer Willenskraft korrigiere ich mich und steh dann dankbar in der Ecke. Man sieht: nicht mal einen Sitzplatz hab ich, aber nicht einmal einen Sitzplatz brauch ich. Und aus dem Fenster raus ist da auch nicht viel Landschaft zu sehen, da sind Häuser und Straßen und vielleicht einmal eine Wiese. Da bekomme ich ein hübsches Gefühl für Mega-City, die verschmolzenen Großstädte der nahen Zukunft, die den Hintergrund für Cyberpunkgeschichten darstellen. Wo Menschen ihre Sinne und Fähigkeiten mithilfe elektronischer Implantate verändern und erweitern, wo jeder Widerstand gegen die von global agierenden Riesenunternehmen gestaltete Lebenswelt von ebendiesen mit militärischer Gewalt skrupellos niedergeschlagen wird. Es ist nicht nur die Geografie, die diese Fantasie weniger abstrahiert erscheinen lässt, als durch doppelverglaste Fenster auf alte europäische Straßen blickend.

Während vor meinen Augen also die eine Stadt in die nächste greift, denke ich daran, dass ich tatsächlich kaum etwas von Osaka gesehen habe. Abgesehen von meinem ersten Spaziergang, habe ich eigentlich kaum etwas von der Stadt zu Gesicht bekommen. Vielleicht ist das der Moment, wo mir gerade alles ein bisschen zu schnell wird für die nächsten Tage. Vielleicht ist es auch nur oder vor allem, dass ich wieder einmal jemanden vermisse, wieder einmal eine konkrete Person vermisse, nicht nur die Sehnsucht, die abstrakte Leerstelle eines fehlenden Gegenübers gefüllt zu bekommen. So wie ich das Gefühl habe, dass Osaka an mir ein wenig vorbeigezogen sei, erscheinen mir in Kyoto jetzt meine Eindrücke ebenfalls gedämpft, als durch einen sanften aber dämmenden Schleier.

Und ungeduldig bin ich auch: Auf dem Weg zu meinem Hostel biege ich von der großen Straße ab, weil mir zu viel los ist und hoffe, über eine der Seitenstraßen schneller und ungestörter zu meinem Hostel zu kommen. Vielleicht auch ohne auf dem Weg den Unmengen von TouristInnen ausweichen zu müssen, die sich langsam die Straße entlangschieben. Pech gehabt, weil die Parallelstraße führt quer durch den Markt und wenn der TouristInnenstrom zuvor nur am Mäandern war, gerate ich hier in die reinste Moorlandschaft. Nicht zuletzt ist es auch der schwere graue Rucksack, der meine Agilität hemmt und mich am eleganten Durchgleiten hindert. Sorry, sorry, argh, fuck it… Aber natürlich ist das nur ein kleiner Einblick in meinen inneren Monolog und wird nicht Teil der aufgeregten Geräuschkulisse, so bin ich auch wieder nicht, dass ich mich mit so einer Sprache öffentlich erwischen lasse. Aber so bin ich immerhin, dass ich mich an TouristInnen vorbeidränge, die getrocknete Fische und eingelegtes Gemüse bewundern, und dabei vielleicht auch einmal vergessen, dass was für sie ein Stehplatz für ein kulturell-kulinarisches Schauspiel geworden ist, für andere immer noch die kürzeste Route von A nach B darstellt. Sorry, sorry, grmblrgh, beiße ich mir inmitten des lokalen Naschmarktäquivalents auf die Zunge und lasse mich von der stockenden Flut tragen: eine Querstraße, eine zweite…

Ohne Rucksack ist alles schon viel leichter und ich mach einen kleinen Spaziergang durch das abendliche Kyoto. Ich kreuze ein fröhlich bevölkertes Flussufer, wo die Menschen im Grünen sitzen und den erfrischend flott vorbeiziehenden Fluss Kamo beobachten. Immer wieder diese einfach gelungenere Integration von Flüssen in die Stadtlandschaft. Wie auch in den Gärten das Wasser eine wichtigere Rolle spielt. Bei uns versteckt man den Wienfluss unter dem Naschmarkt, hier gibt man diversen Nebenflüssen Platz die ganze Stadt zu umarmen. Es wirkt so besonders auf mich, dass ich nach Erklärungsansätzen suche: Ob damit einst ein fehlendes unterirdisches Kanalisationsnetz kompensiert wurde? Auch als Transportwege sind so Kanäle natürlich (!) praktisch. Weiter geht s durch die vergleichsweise leeren Tempellandschaften und verlassene Parks. Ab und zu zieht eine Reisegruppe an mir vorbei, aber sonst kommt es mir vor, als hätte ich in einer halben Stunde Spaziergang die ganze Stadt bereits hinter mir gelassen.

Der Yasakaschrein im Mondenschein (l.o.); tagsüber kommt man da kaum dazu ob der Massen. Wobei das nicht der Schrein ist… pardon, aber die englische Wikipedia bezeichnet das als die Bühne des Schreins, zu dem man diesen Platz bloß quert. Nachdem der Schrein ein beliebter Ort für Neujahrsfeiern ist und auch beim Kirschblütenfest eine wichtige Rolle spielt, ist anzunehmen, dass in diesem Kontext hier etwas die Bühne geboten wird.

Auf dem Weg zurück zum Hostel lauf ich durch Gion. In vielen japanischen Städten gibt s so einen Bezirk, wo man sagt, da sind oder da waren oder da kann man einen Blick auf eine Geisha werfen, mit etwas Glück höre man aus einer kleinen Gasse eine auf ihrem Shamisen üben. Aber wohl nicht um zehn in der Nacht. Und macht nicht schon das Wort Geisha einen seltsamen Eindruck? Ich werd mit dieser westlichen Miskonzeption nicht aufräumen, aber schau einer an, es gibt durchaus eine formalisierte Prostitutionstradition in Japan und schau einer an, wenn man so eine Oiran im traditionellen Outfit neben eine Geisha im vollen Getakel stellt, dann müsse man sich schon gut auskennen, dass man die eine von der anderen zu unterscheiden weiß. Und wenn man eine Gruppe pubertierender JapanerInnen an einen Kebabstand stellt, dann kommen die vielleicht vor lauter Ayran aus dem Kudern gar nicht mehr heraus.

Die Geishas nicht berühren, kein Rumlungern, kein Rauchen, kein Essen, keinen Mist fallen lassen, keine Selfies. Das sind schon viele Regeln für ein Unterhaltungsviertel.

Tags darauf hab ich möglicherweise eine Geisha auf einer Brücke stehen sehen. Aber ich hab sie nicht gefragt, meine Annahme basiert darauf, dass sie extrem unpraktische Schuhe angehabt hat, auf denen sie dem Himmel ein gutes Stück näher war. Und wen, wenn nicht einer Praktikantin althergebrachter Künste würde man derartige Schuhe verpassen. (Wieder einmal vermischen sich Moderne und Tradition in der japanischen Praxis aufs Ununterscheidbare.) Sonst hab ich mir für Kyoto noch einmal eine Handvoll Sehenswürdigkeiten aus dem Reiseführer in meinen digitalen Stadtplan geschrieben. Das ist ganz hilfreich, wenn man wo steht und sich denkt, wohin jetzt und dann schlag ich mein Telefon auf und klick mich durch die Blasen, die in meiner unmittelbaren Umgebung aus der Gegend ragen. Oder ich geh einfach noch ein bisschen eine Straße entlang. Es ist ja ganz hübsch, ein bisschen verloren zu gehen, wenn man s nicht eilig hat. Und dafür sind japanische Städte dann auch schon wieder mehr geeignet als anderswo, insbesondere in der Nacht in einer unbekannten Gegend, wo man vielleicht anderswo hinter einer Ecke eine Übeltäterin oder einen Grobian befürchten würde. Aber nicht hier. Hier fallen zwischen zehn und halb zwölf nur betrunkene Angestellte aus den Bierschuppen, die sich bis zum nächsten Tag wieder folgsame Untergebenheit annüchtern müssen.

Mehr japanische Verbotsschilder. Man sei gewarnt, dass der Schrein strikten Protest einlegen werde, gegen all jene, die an dieser heiligen Stelle ihren Mist loswerden. Und dann schaut das so aus, als würde irgendeine Schreininstitution hier selbst ihr Lager eingerichtet haben… Einmal mehr mehr Regeln als befolgt werden, nur Ramen werden so heiß gegessen wie gekocht.

Am nächsten Morgen stelle ich mehr mir als mich einer der größeren Herausforderungen, indem ich einen Abstecher ins Mangamuseum mache. Es ist ja so: Manga. Was soll denn das überhaupt sein. Und tatsächlich lerne ich schnell einmal, dass es auch gar keine besondere Definition gibt, so sehr ich mich nach einem Satz sehne, der mir sagt: so und so der Strich, so muss der Stift sein und überhaupt, dieses und jenes. Aber das ist es nicht. Die Einleitung sagt mir, dass man, wenn man will, die Geschichte von Mangas auch in der Höhlenmalerei zu finden im Stande wäre. In japanischen Höhlen versteht sich. So bekomme ich zu verstehen, dass sich Manga am ehesten über die Herkunft auf den Punkt bringen lässt. Und natürlich hat sich da ein Stil entwickelt und eine eigene Formsprache, die Mangas zu eigen ist, die sich teilweise aus der Not erklären lässt, wie so vieles in so vielen Künsten, dass man dem finanziellen Notstand entsprechend irgendwo reduzieren musste. Am deutlichsten ist mir das aus den Anime in Erinnerung, wo sie beispielsweise nur einen Bruchteil der Bilder pro Sekunde verwendet haben, als zeitgleich in westlichen Zeichentrickfilmen Usus war, woraus ein bisschen holprige Bewegungen entstanden sind, die mittlerweile einfach Teil der Technik sind. Ebenso dass es diese seltsamen Momente gibt, wo Figuren einige Sekunden in einer energiegeladenen Haltung eingefroren sind, bevor sie die Bewegung durchziehen.

Parallel zur Geschichte der Mangas waren auch die Lebensabschnitte der JapanerInnen dargestellt, also Vorschul- und Schuleintritt, Wahlrecht, Universität. Aber das ist dann weitergegangen mit Berufseintritt, Heiratsalter, erstes Kind… Zugegeben, es waren dann ab Beginn des dritten Lebensjahrzehnts vermehrt deskriptive Maßzahlen, aber das ganze hat immer noch sehr präskriptiv gewirkt: Hier ist das Leben der JapanerInnen, von der Geburt bis zum Tod, ein jeder Lebensabschnitt zum Abhakerln. Der Sinn lag darin, zu zeigen, dass es homogene Zielgruppen gibt, auf die einzelne Mangas sehr stark zugeschnitten sind. Wie sehr da Abweichungen passieren, wie sehr sechzehnjährige Frauen zu den Mangas greifen, die dezidiert für achtjährige Burschen geschrieben sind oder mittelalterliche Männer Comics konsumieren, deren AutorIn damit auf zehnjährige Mädchen gezielt hat, das würde mich schon interessieren. Tatsache ist, dass das Museum voller Menschen aller Altersgruppen war, die auf den Bänken gesessen, am Boden gelegen und mitten im Raum gestanden sind, während sie in ihre Mangas vertieft waren. Das Museum ist wirklich mehr eine Bibliothek, in der zehntausende Mangas zur Entnahme stehen. Wobei die Abteilung für fremdsprachige – nämlich: übersetzte – Mangas zwar klein ist, aber selbst da würde sich eine Jahreskarte wohl auszahlen. Aber das war wirklich schön anzusehen, wie sie da alle gesessen sind, auf Sprechblasen und Bewegungslinien konzentriert. Die Diskussion wie sehr Comics einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Jugend haben, wie sehr Comics Teil einer breiten kulturellen Identität sein sollen, hat Japan wohl bereits hinter sich und die Entscheidung ist ziemlich eindeutig ausgefallen. Eines der schönsten Bilder, das mir aus dem Museum in Erinnerung ist, ist ein großer, beplüschter und beteppichbodenter Raum, in dem selbst die Kinder bis auf einzelne Ausnahmen den Fernseher in der Ecke zugunsten ihrer Comics ignoriert haben.

Kyoto hat eineinhalb Millionen EinwohnerInnen. Während ich in der Innenstadt spazieren gehe, quere ich so einen Fluss. Wirkt das nicht erstaunlich im Sinne von Lebensqualität?

Neben einigen Jahrzehnten Mangageschichte und den Comics selbst, hab ich noch einen Raum gefunden, in dem Abgüsse der Hände von KünstlerInnen ausgestellt, die dem Museum einmal einen Besuch abgestattet hatten. Das war schon nochmal zwanzig Minuten wert. Einerseits einfach, weil da so viele unterschiedliche Handhaltungen zu sehen waren, mit denen sie ihren Bleistift gehalten haben. Einzelne Ausnahmen haben offenbar auf einen Pinsel oder – wer lustiges – einen Radiergummi beharrt. Aber auch interessant, weil ich da dem Mahler seine Hand gefunden hab. Der hat meine eben erst gefundene Sicherheit in Manga-ist-Comic-aus-Japan gleich mal wieder ins Wackeln gebracht. Zugegeben, es gab für die Nicht-JapanerInnen einen eigenen, spärlich gefüllten Schrank, neben dem Dutzend Vitrinen, in denen eine offenbare Berühmtheit der nächsten die Hand reicht. Wahrscheinlich bedeutet der Begriff in Japan einfach etwas anderes, als das, was sich die weltweite Popkulturgemeinschaft als Manga angeeignet hat.

Flaschko Goes Kyoto

Na und dann bin ich halt nochmal durch die Stadt gelaufen und dabei – Überrschung – in einem Tempel gelandet. Oder in einem Garten. Oder einem Teehaus. Es war auf jeden Fall eine sehr gemütliche, ästhetisch ansprechende Umgebung. Schlagartig die Aufregung der Straßen hinter mir gelassen… und das ist eigentlich übertrieben. Kyoto ist an der einen oder anderen Ecke sehr dicht mit Tourismus und meine Seitenstraßenidee hätte in vielen anderen Seitenstraßen tadellos funktioniert, weil man schnell einmal ein bisschen Ruhe bekommen hat, wenn man die Pfade zwischen den zentralen TouristInnenattraktionen verlassen hat. Das ist ja schon eine Überraschung manchmal, dass man die „falsche“ Abzweigung nimmt und aus dem Einkaufszentrumstrubel plötzlich auf einer leeren Wiese steht, umgeben von Bäumen, über die sich Tempelgiebel strecken. Aber der Shōren-in Monzeki (so hieß nämlich der aktuelle Tempel) hat schon eine besondere Ruhe ausgestrahlt. So, dass Leute automatisch geflüstert haben, wenn sie überhaupt miteinander geredet haben. Und selbst die Bauarbeiter, die in einem der Schreine am renovieren waren, schienen ihre Hämmer und Stichsägen mit Schalldämpfern ausgestattet haben.

Es ist die Wiederholung, durch die man sich irgendwann so einen Namen merkt. Und warum nicht ein bisschen eine Postkarte, weil grad Zeit ist. Dem Pfau oben links hätte ich ja so ein Tischchen unter die Füße gestellt, dass er nicht so schwebt. Und den Marmor unten links hab ich einfach sehr witzig gefunden.

Da sitzt man auf diesen schönen Matten und schaut durch eine Tür durch eine Tür auf den Garten. Der Wind durchs Laub, daneben plätschert ein Wasserfall. Das haben die schon gut gemacht, die Natur zu inszenieren. Der Obermönch, der über den Tempel bestimmt hat, war traditionell Teil der kaiserlichen Familie. Was auch lustig ist irgendwo, weil bei uns die Karriere in der Religion tatsächlich eher als ein Ausstieg aus dem Weltlichen zu betrachten wäre, aber die Verbindung zwischen Religion und Politik ist naturgemäß etwas enger in einer Gesellschaft, in der sich das Staatsoberhaupt über die göttliche Gnade definiert und seine Familie bis in ihre göttliche Verwandtschaft zurückverfolgen. Da besetzt man die hübschesten Tempel wohl auch mit Brüdern und Onkeln.

Eine zweite Tempelanlage hab ich mir noch gegeben, Fushimi Inari-taisha, eigentlich eine Anlage von Schreinen, an denen Inari verehrt wird, die ein kami ist, wie ich lese: eine übernatürliche Kraft, in der sich irgendwelche Konzepte im entferntesten Sinne des Wortes: manifestieren. Und Inari vertritt Reis, Sake, Tee und allgemeiner Fruchtbarkeit, aber auch Produktion und wirtschaftlichen Erfolg. Deshalb ist der Schrein wohl auch in vergangenen Jahrhunderten stets gut besucht gewesen. Dank der Tradition, sein Gebet in Form einer torii Schenkung darzubieten, stehen heute hunderte rote Tore, eines an das nächste gereiht auf dem Gelände. Was wiederum schicke Instagram-Bilder ermöglicht. Wer weiß, wie sowas dann auf wirtschaftlichen Erfolg oder gar Fruchtbarkeit zurückwirkt. Andererseits wird Inari oft durch ihre weißen Füchse vertreten, die als ihre BotInnen agieren. Und, wenn ich das richtig verstanden habe, denen werden keine Schreine gebaut sondern einfach der Wald stehengelassen, über den sie quasi kontaktierbar sind. Und deshalb steht dann auch viel Natur um den Schrein herum. Ist auch nett, wenngleich sich das wiederum in Insektenbissen auf dem Knie manifestiert.

Das ist schon ganz hübsch, wie sich dadurch, dass sie aus verschiedenen Quellen stammen, sich ein jedes torii vom nächsten etwas unterscheidet. Und zwischendurch ist dann ab und zu mal eines weggerottet, aber ich nehm an, dass die Leute den Wirtschaftsgeistern immer noch ihre Geschenke machen

Aber dann war ich auch schon wieder weg aus Kyoto und auf dem Weg nach Kanazawa. Das ist an der Westküste Honshus, am Scheitelpunkt der Innenkurve. Eine exklusive Exkursion, zu der mich meine Udonbekanntschaften motiviert haben. Mein erster Eindruck, als ich abends aus dem Bahnhof steige, ist geprägt von meiner Idee, dass es sich um eine kleine Stadt handle. Einfach, weil sie in meinem schicken Reiseführer nicht vorkommt (aber der lässt viel aus) und ich deshalb noch nie was davon gehört habe. Und erstens leben auch hier über vierhundertausend JapanerInnen und sogar etwas mehr als in Nagasaki und zweitens stimmt nicht einmal die vermeintliche absolute Unbekanntheit. Kurz darauf, bei der wiederholten Lektüre des Haus der schlafenden Schönen, stoße ich auf eine Erwähnung Kanazawas, die ich heute, wie schon vor Jahren unbemerkt überlesen hätte, wäre ich nicht diese eineinhalb Tage durch seine Straßen gelaufen.

ArbeiterInnenikone in Stöckelstiefel? Nein, nein, das schaut vielleicht ein bisschen nach Sozialismus aus, aber der Overall ist wahrscheinlich von Issey Miyake

Die breite Straßen querend, die mich gleich einmal an der Kleinstadt zweifeln lässt, finde ich flott zu meiner Jugendherberge, die mehr meinem Bild einer Jugendherberge entspricht, als die meisten anderen die ich in Japan zu sehen bekommen hab. Die Zimmer sind dann eh wieder die üblichen Holzverschläge, die mit Strom und Licht und etwas zu wenig frischer Luft ausgestattet sind, aber in den Gängen sind Postkarten aus aller Welt, Köffer und Landkarten an die Wände genagelt und hier und dort gemahnt uns ein Spruch daran, wie sehr eine Reise unsere Leben bereichert, wie froh das Bekanntschaftenschließen macht. Wenn da bloß nicht wieder die österreichische Familie gewesen wäre, deren Unterhaltungen mich wieder einmal an den eigenen Kräften zweifeln lassen, ob ich mich den Ketten der Heimat widersetzen werde können, die mich in den ungeliebten Sumpf alter Gewohnheiten zu ziehen drohen. Einen Trost bietet die Erfahrung, dass das Abenteuer Abenteuer bleibt, egal ob man sich der âventiure willen in die Welt geschmissen haben oder ob man den engen Wänden der eigenen vier entkommen wollten.

Ich bin einige Stunden mit Haushalten beschäftigt (Wäsche gewaschen, Erinnerungen aufgezeichnet), als es plötzlich elf Uhr ist und ich dem Hunger nachgebe, der mich noch einmal aus dem Haus und in Richtung Zentrum lockt. Hinter der Tür des von mir angestrebten Izakayalokals ist gerade eine private Feier im Gang und ich stehe einen Moment einer Gruppe JapanerInnen gegenüber, die Biergläser und Musikinstrumente in den Händen halten, bis sich die Gastgeberin mir mit einem closed zuwendet und ich mich entschuldigend rückwärts aus der Tür schiebe. Gegenüber finde ich noch einen Platz in einer Ramenhandlung. Die zwei anderen Gäste haben offensichtlich ebenfalls bereits die eine oder andere Stunde gefeiert und stolpern bald nach meiner Ankuft aus dem Beisl. Ich schlürfe meine Ramen während die EigentümerInnen bereits die Küche putzen, also noch einmal schneller als es ja sonst oft einmal schon die Mode ist. Trotzdem schaffen es die zwei irgendwie, dass ich das Gefühl habe, ich hätte mir wirklich etwas mehr Zeit lassen können, als ich mich einige Minuten später in die Richtung der Tür hieve, mein neugewonnenes Völlegfühl im Schlepptau.

Abends in Kanazawa

Um halb drei erwache ich aus einem Albtraum. Ich war ein Kind und seine Eltern, als die ich eben dabei war, ein halbes Bett glatt zu streichen, in dem ich als Kind scheinbar zuvor jemanden im Schlaf erschlagen hatte. Als Kind war ich zunächst nur ein Körper ohne Gliedmaßen, aber ich schien vor kurzem einen Cyborgkörper erhalten haben, spezifischerweise war ich in die Lage versetzt, mithilfe von Kraftfeldern meine Umgebung zu manipulieren. Jedenfalls war das Kind diese Ohnmacht gewohnt und hatte die unerhörten Kräfte des künstlichen Körpers bei weitem nicht unter Kontrolle: Die mithilfe der Maschine nun in die Realität wirkenden Bewegungen meiner Phantomgliedmaßen äußerten sich als weitläufige Gewaltausbrüche. Als Eltern stand ich dem aber ebenfalls hilflos gegenüber, dem Kind die Freiheit der eigenen Mobilität zu nehmen und weiterhin in der Unbeweglichkeit einzusperren, erschien uns nicht als Option. Letztlich bin ich aber aufgewacht, weil das Gefühl der Leere zwischen den Eltern so erschreckend war, die über die furchtbaren Erfahrungen des gemeinsamen Kinds jeweils in die eigene Entfremdung gerutscht sind.

Immerhin ein kreativer Alptraum und auch der psychologische Horror eigentlich ganz interessant, der sich da gesponnen hat. Trotzdem lieber keine Ramen mehr spät in der Nacht.

Am nächsten Morgen mach ich mich zu meinem Spaziergang auf. Kanazawa ist immerhin klein genug, dass ich keine Ewigkeiten unterwegs bin, bis ich vor der ersten Attraktion stehe, die ich mir auserkoren habe: der ehemaligen Wohnung eines Samurai. Wieder einmal stehe ich barfuß auf Tatamimatten und schaue an einer papiernernen Schiebetür vorbei in einen Garten. Diesmal gibt s aber eine Audiotour, die mir aus versteckten Lautsprechern etwas über die Samuraifamilie erzählt, wenn man s eine Tour nennen kann, die sich auf ein Zimmer beschränkt. Und „Samuraifamilie“ ist eher eine Väter-Söhne Geschichte, auch wenn die Vorstellung einer traditionellen Vater-Mutter-Tochter-Sohn Familie in Samurairüstungen ein herziges Bild abgibt. Der Garten ist besonders, weil auf Wasser verzichtet wurde. Dafür bleibe ich ein-, zweimal nur knapp vor einem Spinnennetz stehen, das sich über den Weg spannt. Spinnen eben durchaus positiv besetzt, bisschen Glücksbringer. Oder aber, das Samuraihaus ist nicht so gut besucht, wie man meinen möchte.

Die dürften schon ein bisschen zwänglich gewesen sein in Sachen Ordnung, mit ihren geraden Linien, die Herrschaften Samurai

Als nächstes schlendere ich gleich einmal wieder durch einen Park, in dem alle paar Meter eine Bronzestatue steht. Keine Buddhas sondern Mädchen und Frauen, nur ab und zu ein männlicher Körper. Vielleicht ist es ein falscher Eindruck, aber mir kommt vor, dass die nackt abgebildeten öfter europäische Gesichtszüge aufweisen, während die mit asiatischen Gesichtern tendenziell angezogen sind. Ich bin auf dem Weg zu einem Museum, das an das Leben Daisetsu Teitaro Suzukis erinnert. Das war wohl ein japanischer Theologe… Philosoph? Auf jeden Fall wohl ein Lehrer und Autor, der dazu beigetragen hat, Zen Buddhismus einem westlichen Publikum zugänglich zu machen. Ein hübsches Museum, das nur ein bisschen ein Museum ist. Und – ganz offensichtlich Tag der Audioguides – ein guter Audioguide, der mir Schritt für Schritt Details ins Ohr flüstert: Der Baum, den du hier durch das Fenster siehst, ist um die zweihunderfünfzig Jahre alt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein junger Daisetsu an einem warmen Sommertag durch seine Äste geklettert ist… Im einzigen Ausstellungsraum verweist die Stimme in meinem Ohr dann jedoch auf die schriftlichen Erklärungen, weil die ausgestellten Spruchbänder und Bücher des Herrn Suzuki oft wechseln. Ich sitze neben einem japanischen Mädchen wir schauen uns gemeinsam Fotos von Suzuki im mexikanischen Garten von Erich Fromm an.

Um die nächste Ecke mache ich einen neuen Eintrag auf der Liste des Museumsangestellten, der die Herkunftsländer der BesucherInnen dokumentiert. Austria: 1. Dann sitze ich über zen-buddhistische Kinderbücher gebeugt in der Bibliothek. Und dann ist da noch der große, flache Teich, dessen Spiegel alle paar Minuten durch ein konzentrische Kreise werfendes Blubbern unterbrochen wird. Im Kontemplationswürfel sitzen TouristInnen aus aller Welt und checken ihre Telefone nach neuen Nachrichten. Ich habe gelernt, dass die Suzukis generationenlang die Ärzte der Familie Honda gewesen sind und weder die einen noch die anderen sind ein Auto. Dafür hat der T.D. Suzuki in den Dreißigern den japanischen Imperialismus gerechtfertigt und zwar „einzelne Individuen“ bedauert, die Opfer der nationalen Politik damaligen Deutschlands wurden, aber prinzipiell sei das zu unterstützen, wenn es die nationale Identität Deutschlands stärke. Na ja, auch ein Zen Buddhist ist nur ein Mensch und kann sich irren.

Von der Reinheit der geraden Linien im Suzukimuseum mache ich mich auf in den berühmten Garten von Kanazawa, einer von nur drei „perfekten Gärten“ die es in Japan gibt. Ich bin nicht dazu gekommen, mir die Kriterien anzusehen, die der Garten alle erfüllt, aber ich hoffe stark, dass es irgendwo eine Liste gibt. Natürlich ist der Garten schön, aber er ist so groß und wir schlendern Kieswege entlang und so erinnert er mehr an einen französischen Garten. Ich vermisse die Intimität, die mir an vielen japanischen Gärten gefällt, aber hier gehe ich eher in der Weite verloren statt im Detail. Natürlich gibt es auch hier die eine oder andere Ecke, in der man ein kleines Geheimnis entdecken mag, eine hübsche Laterne oder eine beeindruckende Brücke, eine schöne Aussicht. Und es gibt Geschäfte, Eiscreme und Ansichtskarten. Ich kaufe eine Ansichtskarte für die BesitzerInnen meines Udongeschäfts um tags darauf damit konfrontiert zu sein, dass ich ja die Adresse gar nicht auf die Karte schreiben kann.

Hier haben sogar eine Statue eines Prinzen in den Park… tsk! Ich mein natürlich „in den Garten“ gestellt.

Am Abend versuche ich es nochmal im Izakaya, in dem ich am Vorabend die Feier unterbrochen hab. Irgendeine Bewertung hat mich da so beeindruckt gehabt, dass ich das nochmal versuchen wollte. Außerdem lag mein Hostel einfach auf der weniger aufregenden Seite der Stadt und so viel Auswahl war da nicht. Zuerst sind die GastgeberInnen ein bisschen zurückhaltend, als ich hereingekomme. Sie geben mir zu verstehen, dass sie keine englischsprachige Karte für mich hätten und insgesamt nur wenige Worte zur Kommunikation. Aber mit meiner Bestellung des most popular komme ich ihnen wohl etwas entgegen und schon habe ich mein Bier und ein paar Vorspeisen vor mir stehen, während der Koch an meinem Sashimiteller bastelt. Nicht nur die Situation ist aufregend, auch mein Essen. Ich habe eine dunkle, stachelige Seeschnecke bekommen, die ich als ganze aus ihrem Schneckenhaus ziehe. Die steck ich mir schnell in den Mund, ich merke, dass ich über die nicht lange nachdenken möchte, weil es mich doch ein bisschen ekelt. Ich bin mir jetzt gar nicht mehr sicher, irgendwie muss die wohl schon zubereitet gewesen sein, weil sonst hätte sie sich kaum so leicht aus dem Haus ziehen lassen… sie schmeckt auf jeden Fall etwas modrig, leicht bitter, aber insgesamt eigentlich ganz gut. Neben der Schnecke ist eine Art Salat, den ich zuerst für Quallensalat halte, relativ feste, leicht nach Meer schmeckende, lichtdurchlässige Streifen in einer Marinade. Die hilfsbereiten Japaner neben mir, mit denen ich mittlerweile ins Gespräch gekommen bin erklären mir aber, dass es sich um Fugu handelt. Da hab ich den Salat schon aufgegessen. Fugu also, sag ich ungläubig. Aber ja, es ist Fugu bestätigt auch die Gastgeberin. Allerdings sei das nur die Haut. Für die eigene psychische Gesundheit nehme ich an, dass man das tödliche Nervengift nur im Fleisch serviert bekommt und nicht als gleichgültige Vorspeise.

Mit meinem Sashimiteller bleibt das Essen aufregend. Das spannendste ist eine weitere Schnecke, etwas größer im Durchmesser, sodass auch die Schnecke hier aufgeschnitten serviert wird. Das Stück, das ganz offenbar zuhinterst im Schneckenhaus war enthält, so erklärt man mir, die Organe. Das Stück ist deutlich dünkler und schmeckt angenehm nach Leber. Verschiedene Fische sind auf meinem Teller sowie zwei dünne Scheiben rohen Rindfleischs für das ich bitte Sojasauce mit Ingwer anrühren soll. Wasabi und Sojasauce bliebe dem Fisch vorenthalten. Meine zwei Nachbarn sind mittlerweile beim zweiten Gang gelandet und vor ihnen steht ein Topf, in dem Kraut mit allerhand Gemüse, Tofu und einigen Stücken Fleisch eingekocht wird. Aus dem Topf wird das Gargut dann noch in ein rohes Ei getunkt, bevor sie sich s in den Mund schieben. Ich bin zum Kosten eingeladen, das schmeckt schon. Damit ich nicht vor meinem leeren Teller sitze, stellt mir die Gastgeberin noch einen Salat hin und eine halbe Stunde später hab ich noch ein Saketrio bestellt, durch das ich mich durchkoste.

Mittlerweile sitzt auf der anderen Seite ein weiterer Stammgast und der Gastgeber hat angefangen, uns mit Zaubertricks zu unterhalten. Das klingt jetzt sicherlich nicht weniger absurd, als es sich in der Situation angefühlt hat. Eine Menge verblüffender Kartentricks später, bekomme ich einige kleine Zaubereien geschenkt und während die Gitarre aus dem Gang zum Klo geholt wird, bezahle ich und verabschiede mich vergleichsweise herzlich auf den Heimweg. Wieder einmal bin ich beeindruckt davon, wie freundlich ich aufgenommen werde und wie wenig gemeinsame Sprache uns genügt, um eine Art Freundschaft zu schließen.

Und während ich mich hier zurückerinnere, setzt sich der Robert neben mich, den ich damit kennenlerne und wir reden ein wenig darüber, wie nett das ist, wenn man durch Japan reist – insbesondere allein durch Japan reist – und sich irgendwo reinsetzt, wenn man dann ins „Gespräch“ kommt, obwohl man kaum Wörter hat, mit Hilfe derer man sich unterhalten kann. Wie unerwartet das ist, wie Japan einen damit überrascht, dass es neben den TouristInnenströmen und den Bilderspeisekarten mit den lustigen englischen Übersetzungen so viele kleine Ecken hat, die zu beschreiben man vielleicht doch zu dem schwierigen Wort authentisch greifen muss. In die man ohne gröbere Probleme hineinstolpert und so schnell einmal einen unvergesslichen Abend verbringt, weil man wie ein satter Koi in der Glückseligkeit von Abendessen, Gast- und Alltagsfreundlichkeit schwimmt.

Aber ich bin schon wieder unterwegs und auf dem Weg nach Tokio um meine Wahlkarte in der Botschaft auszufüllen. Nicht vergessen…