zugig

Vielleicht ist die Kälte leichter handzuhaben, weil es mehr wie ein mich ihr aus eigener Kraft aussetzen wirkt. Weil nicht einfach die Stürme gekommen sind und der Regen und der Himmel sich verfinstert hat, weil der Sommer nicht überschwemmt und ausgedämpft wurde. Sondern weil ich mich auf die Fähre begeben habe und dann in den Zug gestiegen bin. Und aus eigener (geborgter) Kraft in den Winter gefahren bin. Und jetzt kratzt die Temperatur an den zweistelligen Minusgraden und ich krieg mich ehrlich gesagt kaum ein vor Freude über die eisige Nasenspitze, über die klirrenden Bäckchen. Über die rotgefrorenen Gesichter der anderen, wie sie mir aus ihren pelzumkranzten Kaputzen entgegenblicken.

Zugegeben, in Odessa war ich ein bisschen Ausrüstung nachbessern. Dabei hab ich bloß vier Schichten angehabt und unter s T-Shirt hätte ich locker noch ein Unterleiberl gekriegt und ich hab auch nie die Jacke über s Sakko angezogen. Hätte ich dem Wetter noch getrotzt! Aber da war s mir kühl, und das waren noch knappe Plusgrade. Aber dann hab ich mich durch die Humanas gewühlt und im dritten Geschäft dann einen Mantel gefunden, bei dem mir die Schultern nicht bis an die Ellenbogen gestanden sind. Und jetzt hab ich einen Mantel der zwar dünn wirkt, aber trotzdem ziemlich warm hält. Und einen Schal. Zwar bietet der Mantel so viel Kragen und dementsprechend viele Knöpfe, dass ich mich darin fast bis zum Scheitel einwickeln kann, aber so seh ich noch was von der Umgebung.

Jetzt. So viele Eindrücke in Wirklichkeit. Als ob ich nochmal alle Sinne extra aufgedreht hab und die ganze Erinnerungspalette weit ausgebreitet, alles anschlussfähig, alles assoziierbar. Herrrreinspaziert, einmal geht noch: Nationalismus, Einsamkeit, Freiheit, Sicherheit, Vertrauen, Angst und Wut, Kunst, Männlichkeit, Selbstverwirklichung und der Moment in der fernen Zukunft an zum allerletzten Mal jemand an mich denkt.

Odessa hat mehr Stiegen aber nur eine, auf denen sich Leute bedeutungsschwer fotografieren. Odessa hat ein Opernhaus, in dem man für zwanzig Euro auf den besten Plätzen sitzt. Odessa hat viele holprige Straßenpflaster und den Charme abgeklungenen Ruhms. Vor dem Museum wird die Straße aufgerissen und für jemanden, der Absperrungen und Umleitungen gewöhnt ist, stellt die allgegenwärtige Baustelle ein bisschen eine Herausforderung dar. Hier… einfach… quer drüber? Wichtig ist, sich nicht zusammenschieben lassen und ideal wär wahrscheinlich, den Leuten nicht in die Arbeit steigen. Es ist vielleicht keine Überraschung, wenn diese Situation in mir die Beobachtung weckt, dass ich stark daran orientiert bin, was in einer Situation alles falsch zu machen ist.

Ein ruhiger Tag für die leere Potemkinstiege. Insgesamt geht s viel auf und ab in Odessa

Im Museum warten ältere Frauen mit Kopftuch die Ausstellungsräume, die gerne ein bisschen mit einander plaudern, während ich über den knarzenden Parkettboden steige. Ich hab mich – von wegen abgeklungenen Ruhms – für die Vergangenheit entschieden, vielleicht wird die moderne Kunst auch hier (wie in Tbilisi) von den jungen Menschen betreut. Aber es ist nett, auch das trägt zum Charme bei. Draußen ist es grau und kalt während drinnen Kunstlicht auf fünfhundert Jahre Kunstgeschichte scheint. Und auch interessant natürlich das zwanzigste Jahrhundert, weil das nicht nur die naturalistische Malerei über den Haufen wirft sondern natürlich vom Widerstand gegen den Stalinismus geprägt. Die Frauen und Männer, die im Widerstand gegen ein repressives System neue Formen der Darstellung und damit neue Perspektiven entwickeln. In Tbilisi scheint mir daraus zwar mehr nationale Identität gezogen worden zu sein, aber das war vielleicht auch da spezialisiertere Museum.

Aber wo das Museum für mich scheint, sind die Darstellungen von gesellschaftlichen Situationen des späten neunzehnten Jahrhunderts. Leider sind die Bilder meist hinter Glas und es gelingen mir kaum Fotografien, auf denen sich nicht die Beleuchtung spiegelt. Es sind oft so private, halb-öffentliche Situationen von so Mittelklassepersonen, beispielsweise After the Party, auf dem betrunkene Soldaten ihren Rausch ausschlafen, während zwei Frauen interessiert (belustigt?), vorsichtig bei der Tür hereinschauen. Oder Visiting the Poor, auf dem Vater-Mutter-Kind bei einer armen Familie hereinschneien und großartig die gelangweilte Teenagertochter. Oder Hiring a Maid, auf dem eine Familie ein Kindermädchen interviewt, die Mutter streng, der Vater mit seiner Pfeife beschäftigt, die Haushälterin im Hintergrund skeptisch, die Kinder versuchen ihre gespannten Blicke zu kaschieren. Vielleicht lege ich zu viel von meiner geschichtlich und geographisch wirklich unterschiedlichen Perspektive in die Interpretation hinein, aber ich sehe in den Bildern eine amüsante und vertraute Menschlichkeit.

Oder hier, tragisch und brutal, aber ein witziges Sujet.
Sick to death of her (1897)
A.V. Makovskiy (1869-1924)
Aber auch von den modernen Sachen hab ich ein paar ganz schön, ganz schön beeindruckend gefunden. Man sieht nicht, dass das Bild sicher zweieinhalb Meter breit ist.
Polot (Flug) (1965)
A.P. Azmantschuk

Am Abend sitz ich in der Oper im Barbier von Sevilla. Es sind nicht die besten Plätze, aber immerhin Parkett um grad einmal zehn Euro. Die Oper ist nur zu einem Drittel gefüllt. Ich hab in der ersten Pause ein bisschen eine Unterhaltung mit der Dame, die kurz vor Beginn von einem der hinteren Plätze auf den Sessel neben mir huscht. Da krieg ich gesagt, dass sie im Sommer üblicherweise voll ist, die Oper, aber hier wie da sind s in erster Linie TouristInnen. Ich bin ein bisschen überrascht, dass der Barbier nicht nur die Komödie spielt, als die sie geschrieben ist, sondern noch ein bisschen dicker aufträgt, mit einigen vermutlich zusätzlichen Einlagen, jetzt nicht direkt Slapstick, aber halt körperlicherer Humor. Einmal gibt s eine kleine Nachfrage auf Ukrainisch, die Reaktion darauf lässt mich annehmen, dass doch einige UkrainerInnen im Publikum sitzen. Ich bin gut unterhalten, auch wenn die Übertitel nur auf Ukrainisch gezeigt werden und ich die Handlung entlang der Zusammenfassung im Programm folgen muss, die kaum ein Pixibuch füllen würde. Aber das tut die Handlung wohl kaum wie sie ist.

Weiß und Gold, das ist so der Standard. Und das sei übrigens, sagt meine Sitznachbarin, echtes Gold. Ich überlege ein bisschen wie viel Gold man für so einen Bühnenbogen wohl braucht. Aber ich weiß wirklich nicht wie viel Gold man so zum Vergolden braucht, also keine Ahnung.

Also ja, volles Kulturprogramm für mich in Odessa. Ich bin mehr auf der Suche nach Möglichkeiten, nicht dem Wetter ausgesetzt zu sein. Aber ich geh auch viel spazieren von hier nach da und zurück. Wie gesagt, das Straßenpflaster ist ein bisschen holprig überall in der Innenstadt und die Häuser haben auch schon bessere Tage gesehen. Aber es ist hübsch und ich freu mich über die Lichter und die Gesichter der Leute, die schneller und ernsthafter als in wärmeren Ländern durch die Stadt marschieren. Ich freu mich auch über den Frost in meinem eigenen Gesicht. Das allerdings so wirklich erst in Kyiv, wo die Minusgrade wirklich zupacken, aber wo auch die Sonne scheint und der blaue Himmel aus der kalten Luft eine Erfrischung macht.

Ich hab mir einen Nachtzug für von Odessa nach Kyiv genommen. Weil es sind doch vierzehn Stunden zwischen den zwei Städten. Ukraine ist einfach enorm groß, man übersieht das vielleicht ein bisschen weil Russland daneben (und ja nicht nur daneben sondern auch ein schönes Stück überlappend) liegt. Interessanterweise gibt s von Odessa trotzdem einen Zug nach Moskau.

Und die Zugfahrt verläuft flott und ereignislos, man mag s kaum glauben. Natürlich nicht so einfach am Bahnhof meinen Bahnsteig zu finden. Mein Kyrillisch ist ja immer noch so, dass ich ein bisschen stehenbleiben muss für ein längeres Wort. Heute bin ich am Soziologieinstitut vorbeigelaufen und war schon drei Meter vorbei, bis ich das Wort in meinem Kopf endlich ausbuchstabiert hatte. Hab ich umgedreht und das Schild nocheinmal mit einer stärkeren Anerkennung angeschaut. Schnell gehen mittlerweile die Notariate und die Apotheken. Davon gibt s irrsinnig viele, so scheint s. Oder es ist gerade das, dass das Worte sind, die ich mittlerweile schon fast auf einen Blick erkenne. Beim нотаріус les ich immer noch hot… aber dass das р ein r ist, das ist dann automatisch und so kann ich dann in der Mitte des Wortes schon zum Lesen aufhören, weil ich an dem Fehler den ich am Anfang mach, mich schon an das Ende erinnere. Und аптека sowieso. Ein Blick und Apotheke.

Und das ist auch nicht das Київ Kyiv ist, das ist nicht das Problem. Das Problem ist Bahnsteig und dann ist da noch ein Wort, von dem ich nicht mal weiß, was es heißen könnte. Und überhaupt ist das ganze Ticket mit Zahlen und Buchstaben vollgedruckt, die möglicherweise die Zwischenstationen und die Uhrzeiten sind, an denen wir wo stehen bleiben. Aber ich nehme an, dass die Leute, die nicht den Bahnsteig entlanglaufen MitarbeiterInnen der Bahn sind und die sind dann auch sehr hilfsbereit. Nachdem ich den Hinweis тридцять-шість nicht verstehe, bringt man mich dann bis zu meinem Bett. Nummer sechsunddreißig. Zwei Mädels sitzen bereits auf einer Bank, von denen die eine ein Telefonat führt, über das die andere regelmäßig die Augen verdreht. Es ist ganz lustig nur so den Tonfall und die Sprechweise zu belauschen, während ich vom Vokabular ja nur die dezidierten Bestätigungen und Verneinungen mitbekomme.

Ohne eine Durchsage oder irgendein Pfeifen startet der Zug. Die beiden Mädels machen sich alsbald die Betten und liegen darin um halb neun bereits zugedeckt. Aber mir ist das recht, ich lieg in meinem Bett ja auch lieber als schweigend auf engem Raum nebeneinander und einander gegenüber zu sitzen. Um zehn sind die Mädels aber schon wieder auf und am zusammenpacken, weil die steigen schon aus. Tsk!, greif ich mir ein bisschen an den Kopf, aber warum nicht. Wer für Liegewagen zahlt, möchte auch liegen. Es kommt etwas später noch jemand in unser Abteil, und ergreift dann auch dankbarerweise die Initiative, das bereits gedämmte Licht endgültig abzudrehen. Und ob man s glaubt oder nicht, ich schlaf dann durch von zwei bis sieben. Ratzfatz. Sicher, ein bisschen sorg ich mich, weil da nicht mal ein Netz oder was ist, dass ich mich umdreh und in die Tiefe stürze. Aber passiert natürlich nicht, weil ich kann ja schlafen, bin ja nicht blöd.

Im Bettzeug ist auch ein Handtuch beigepackt, mit dem ich mich grad noch ein bisschen frisch mache bevor wir schon in Kyiv stehen und ich aussteige und in den neuen Tag und den sich darüber spannenden blauen Himmel hineinstarte.

Ich mag ja orthodoxe Kirchen mittlerweile wirklich gern. Mit ihrem Gold und ihrem Bunt. Und drinnen keine Bänke und insgesamt mehr wie ein Tempel, wo man zu verschiedenen Ikonen geht, vielleicht je nachdem, wofür man grad auch betet… Und wenn die Leute auch nur an einer Kirche vorbeigehen, bekreuzigt sich die Hälfte. Die Männer den Hut ab, die Frauen am besten einen Hut auf. Und natürlich der Weihrauch und die Männer in den schwarzen Röcken. Nur die Ikonen, das versteh ich immer noch nicht ganz, was da mit denen ist. Aber vielleicht erschließt mir das vielleicht einfach nicht, mit der Gleichgültigkeit, mit der ich Religion begegne.

More Berg, all the Berg

Ich bin auf einen Berg gegangen. Aber es war, wie die Frau gestern in der Information mir auch schon versucht hat verständlich zu machen, kein Spaziergang in dem Sinn, auch keine Wanderung sondern tatsächlich eher Bergsteigen. „Warum nicht hier entlang, ein schöner Spaziergang, zweieinhalb Stunden in eine Richtung und wieder zurück…“ Aber natürlich bin ich trotzdem auf den Berg, weil da doch ein Berg ist. Die Gründe, warum ich auf einen Berg steigen will erschließen sich mir nicht ohne weiteres. Das ist tief verwurzelt und ambivalent.

Vom halben Berg zurück auf die Eisenbahnstation in Arthur’s Pass.

Ich bin in Arthur’s Pass. Nach meinem Ausflug auf Rakiura, der „dritten Insel“ Neuseelands, Steward Island, bin ich wieder in den Norden gefahren, nicht nur weil s nach Süden tatsächlich nicht viel weitergeht, ich hab einen Flug zu erwischen und zwischen den Bedingungen des öffentlichen Verkehrs und den Ansprüchen des Reisenden dauert das ein wenig. Zurück durch Dunedin und Oamaru, wieder zurück in mein Christchurcher Hostel, in dem ich vor zwei Wochen angekommen bin. War wohl mehr entlang der Vertrautheit entschieden: eine halbe Stunde vom Bus entfernt und eine Dreiviertelstunde vom Bahnhof, an dem ich um acht in der Früh sein sollte. Unpraktisch aber machbar.

Der Bahnhof schaut nicht aus wie ein Bahnhof. Da ist nur der Schalter, zwei Schalter, aber sonst keine Infrastruktur. Spätestens, als ich im Zug Platz nehme (mein Fahrschein, der mir einen Fensterplatz zuweist, hat einen Abriss), merke ich, dass das kein Zug ist, mit dem man reist. Also natürlich fährt der Zug dorthin, wo ich will, aber er ist viel mehr ein Ausflugs-, denn ein Reisezug. Es gibt einen Audiokommentar, über den mir eine neuseeländische Frauenstimme über die Entwicklung der Gegend erzählt, durch die wir fahren. Durchaus interessant: In der Gegend um Christchurch ist weniger als ein Prozent der Pflanzenwelt einheimisch. Weil hier praktisch alles Farm- und Weideland ist und dafür wurde einfach Platz gemacht in den letzten hunderfünfzig Jahren. Und natürlich auch die Geschichte darüber, wie hier ein Weg über die Alpen gesucht und mit Unterstützung der Maori gefunden und zur Bebauung ausgewählt wurde. Ich sitze eh gern im Ausflugsbus, merke ich.

Mit Sichtfenster in der Decke und allem…

Vor mir sind mehere Reihen mit US-AmerikanerInnen besetzt, die über Boston hierhergeflogen sind („I try to avoid flying over New York as much as possible.“) und die etwa in ihren Sechzigern stecken. Es ist interessant, weil ich so wenig US-AmerikanerInnen begegne, im Vergleich mit Europa beispielsweise, dass ich jedesmal wenn ich ihnen gegenüberstehe, ein bisschen überrascht bin. Mit L. in Queenstown war das auch so, dass ich mich letztlich richtig gefreut hab, weil ich mag eine gewisse amerikanische Art eigentlich ganz gern, selbstbewusste Naivität, interessiert und auf eine eigene Art menschenbezogen.

Der Fluss, der sich im Kiesbett verzweigt. Ich mein, man kann nicht leugnen, dass sie eine hübsche Route für ihren Ausflugszug haben.

In Arthur’s Pass ist eine Station und hier steig ich aus. Das Hostel ist selbstverwaltet, also nicht im Sinne davon, dass es jemand unabhängig von einer Hostelkette betreibt, sondern in dem Sinn, dass sich das Hostel selbst betreibt. An der Tür ist ein Telefon, das einen automatisch zum Besitzer durchklingelt, der checkt mich ein, gibt mir den Code für die Tür und wünscht mir viel Spaß. In der Küche steht eine Honesty Box, in der man seine Nächtigungsgebühr einwirft. Es ist gemütlich. Eine Zeit lang sieht es so aus, als hätte ich das ganze Haus für mich, gegen Abend trudeln zwei schweigsame Ich-glaub-es-sind-BritInnen-aber-wie-gesagt-in-erster-Linie-schweigsam ein, aber es ist immer noch sehr heimelig.

Die eine Straße in bzw. durch Arthur’s Pass.

Am Nachmittag mach ich einen kleinen Spaziergang zu einem der vielen Wasserfälle. Und bin fast an einer Rettungsaktion beteiligt. Die Frau im Infozentrum, ja, die von oben, telefoniert bisschen an ihrem Walkie-Talkie, weil da eine Rettungsaktion im Gange ist und sie ist eigentlich eine von den CheckerInnen, aber heute muss sie den Shop betreiben, weil irgendwer muss da sein und den Leuten sagen, dass sie lieber nicht den Avalanche Peak besteigen sollen sondern sich vielleicht lieber einen netten Spaziergang durch den Wald vornehmen sollten. Quasi: Notrettungsvorbeugung. Und jetzt muss da eine Karte in die Nähe getragen werden, ob ich vorhabe, zum Wasserfall rauf zu gehen. Ja, sage ich, aber ich hätte zuerst noch einen Bissen gegessen und überhaupt, ein paar Dinge heimtragen, andere Schuhe und so weiter. Im Nachhinein hab ich nämlich durchaus ein schlechtes Gewissen entwickelt, dass ich nicht sofort zur Stelle war. Aber die ganze Situation – da war noch ein dritter daneben, der davor schon viel Gelassenheit verströmt hat – hatte so wenig Dringlichkeit. Und natürlich dann die Rechtfertigungen: Ich hatte zu dem Zeitpunkt nur halb verstanden, wo der Wasserfall sei. Unverantwortungsvoll, nachdem ich den ganzen Tag nur getrocknetes Rindfleisch genascht hatte, aber eigentlich ohne Frühstück in Christchurch aufgebrochen. Und insgesamt keine Ahnung von den Gegebenheiten vor Ort und auf nichts vorbereitet. Allerdings ist der Wasserfall auch nur eine Stunde entfernt gewesen und während ich dorthin unterwegs war, hab ich mir wiederholt gedacht: na, das wäre schon spontan möglich gewesen.

Hier fällt das Wasser. Dummerweise haben die wenigen Wolken auf dem sonst relativ blauem Himmel gerade die Fallkante minutenlang nicht freigemacht und jetzt sieht man gar nicht so wirklich, wo der Himmel aufhört und das Wasser beginnt.

Nichtsdestotrotz war ich erst einmal in dem günstiger wirkenden der zwei Cafés und dann daheim, bisschen einen Rucksack packen, ein Wasser, übriggebliebene Müsliriegel aus Rakiura, Fernglas und alles. Und dann wieder im Shop hat sie gemeint, danke, aber es sei bereits wer anderer unterwegs. Und das war nicht uninteressant, weil ich glaube, dass der, den sie da letztlich vom Berg gehubschraubert haben, ich glaube, das ist einer von meinen Schweigsamen gewesen. Weil ich zufällig im Raum war, da ist noch ein Herr gekommen, der ein paar Personalien aufgenommen hat und mir ein „One of those days, ey?“ zugeraunt hat, als der Schweigsame auf der Suche nach seinem Pass war. Und dann hat er ihn noch ein bisschen gemaßregelt im Sinne von: du bist ja nicht der erste, der die orangen Markierungen übersieht, nicht der erste, der bis an die Schlucht herankommt, aber vielleicht der erste, der einfach weitergeht. Und das fand ich etwas unfair, weil dem Schweigsamen war das natürlich sowieso alles furchtbar unangenehm und der hat sich dann auch gleich einmal schlafen gelegt, als der Herr mit seinen Personalien wieder abgezogen ist. Aber auch den kann man verstehen, von einer menschlichen Seite her muss ich der natürlich auch den Schock ein bisschen aus den Gliedern reden und wenn er da nur den Bergstolperer selbst vor sich hat, nun, dann ist das ein bisschen unprofessionell und eben auch etwas unfair. Aber wenn das Adrenalin sich dann verabschiedet und man trotzdem noch keinen distanzierten Blick auf die Sache gewonnen hat, dann rutscht einem sowas eben einmal hinaus. Hoffen wir, dass es bloß das gewesen ist.

Und heute bin ich dann auf den Berg. Ich wollte früh los, weil in meiner Beratung im Informationszentrum hab ich diesen Blick bekommen, mit dem man jemanden fragt, ob er einen verarschen will, als ich gefragt hab, ob sie mit „früh los“ eine Zeit eventuell nach neun auch noch mitmeint. Aber ich kenn mich ja und auch wenn ich einen Wecker für sieben hatte bin ich, na, sagen wir nicht vor neun am Bergfuß gestanden. Dann hab ich einmal den Weg rauf nicht gefunden und dann hab ich den Weg rauf nicht wirklich fassen können. Weil der Weg auf Avalanche Peak, abgesehen davon, dass es zwei gibt, aber einer ist wohl eher für rauf und der andere dann üblicherweise für runter. Aber Avalanche Peak, das ist ein Gipfel, der über tausend Meter über dem Pass liegt, gleichzeitig aber ist der Weg dorthin nur zweieinhalb Kilometer lang. Also: steil. Und da gibt s dementsprechend viel zu klettern und zu kraxeln.

Die neuseeländischen Alpen sind übrigens Kea Country, der örtliche Waldpapagei (Nestor notabilis). Es gibt da einige in Schönbrunn, hinten bei den Waldrappen, wo die unscheinbaren Vögel versteckt sind.

Naja, long story short: Ich bin noch nicht an der Baumgrenze gewesen, als ich mir gedacht habe, es wird wohl klüger sein nur bis zur Baumgrenze zu gehen, weil der Weg nachher noch etwas unangenehmer werden soll. Und etwa zweihundert Meter weiter hab ich mir gedacht: Baumgrenze, Schaumgrenze, ich dreh gleich um. Weil: Verantwortungsvoll. Und nachdem es sich um einen Aufstieg handelt, für den ich eh schon relativ spät war, ich noch niemanden gesehen hatte und gerade erst das Dach mit einem Opfer der eigenen Zielstrebigkeit geteilt hatte, hab ich ein bisschen Sorge bekommen, wie s mir geht, wenn ich hier irgendwo hängen oder liegen bleib oder entsprechend schlimmeres.

Auf dem Weg zurück habe ich dann natürlich nachgedacht: Wieso dieses Auf-den-Gipfel-Wollen. Und wieso dieses Loslassen davon so mühsam ist. Und wie ich mit Anerkennung für diese vernünftige Entscheidung umginge, insbesondere wenn diese aus jener Richtung käme, von der ich die Gipfelstreberei ja überhaupt erst übernommen habe. Und dann ist mir ein Spanier entgegengekommen, der mich gefragt hat, wie weit s noch rauf ist. Weiß nicht, sicher noch ein Stück, sag ich, ich sei grad umgedreht, weil s mir dann doch zu steil ist und ich allein am Berg mich damit nicht besonders wohl fühle. (So in etwa. Mir ist, nebenbei, in diesem Gespräch aufgefallen, dass ich mit ihm ein bisschen so rede, wie man – oft komisch überzeichnet – im Film mit Leuten redet, die eine Sprache nicht gut können: kurze Wörter, viel Nachfragen und wohl auch etwas lauter als normal.) Darauf sagt er, dass der Ausblick sicherlich sehr schön sein von oben. Und ich denke mir: ja, vielleicht. Aber ist das der Grund, warum ich auf einen Berg gehe? Erlebnis, Erfahrung, Selbst- oder Fremdbeweis?

Oft einmal zerdenk ich vielleicht etwas. Ich muss es vielleicht nicht wissen, warum ich auf einen Berg gehe und mich dabei derartigen Meta-Überlegungen hingebe.

Aus dem Wald auf, was ich für Avalanche Peak halte. Das Wetter war ja auch gar nicht so besonders.

Stattdessen war ich dann im Wald spazieren. Dass das ganze so knapp an der Straße ist, die über den Pass führt, war visuell kaum wahrzunehmen, ab und zu rauscht einem halt ein Auto durch den Vogelgesang, war aber eine angenehme Wanderung, die mich auch nicht so recht an einen Punkt geführt hat. Irgendwann hat sich der Weg schlicht so verlaufen gehabt, dass ich mir gedacht hab, Lake Misery hin oder her, ich mach mich auf den Heimweg. Der angekündigte Regen ist auch ausgeblieben, aber ich war halt trotzdem um drei wieder daheim.

I’m on My Way (The Proclaimers)